Interview mit Ulrich Nortmann

Am 17. 4. 2014 erschien in der saarländischen Zeitschrift „Forum“ ein Text: als angebliche Wiedergabe eines Interviews mit Ulrich Nortmann.
Der Wortlaut dieses Texts hatte nicht sehr viel mit dem von mir durchgesehenen und zum Abdruck freigegebenen Text zu tun.
Es wurde kräftig gekürzt (wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist), und interessanterweise wurden dabei z. B. bestimmte Fragen, die der Interviewer zunächst gar nicht gestellt hatte, mit Antworten zusammengeschlossen, die der Interviewte auf ganz andere Fragen gegeben hatte.
Aus dem Vergleich des in „Forum“ erschienenen Zusammenschnitts mit dem unten folgenden, korrekten Text kann man insofern allerhand darüber lernen, zu welchen Realitätsverzerrungen journalistische Arbeit unter Umständen führt, wenn selbst minimale Sorgfaltspflichten nicht eingehalten werden. 

 

Interview von Till Ermold mit Prof. Dr. Ulrich Nortmann, April 2014

Ermold: Das Gutachten des Wissenschaftsrates wurde erst vor wenigen Monaten veröffentlicht. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie mit dessen Inhalt konfrontiert wurden?

Nortmann: Der erste Gedanke ist gewesen: „Es war klar, dass es so kommen musste.“ Angesichts der Finanzlage im Saarland und an der Uni müssen Strukturentscheidungen getroffen und Schwerpunkte gesetzt werden. Diese Tendenz des Gutachtens hat mich nicht überrascht. Ich finde es vom Ansatz her durchaus richtig und den finanziellen Realitäten angemessen.

Der Wissenschaftsrat will alle Fächer nach Kriterien wie studentischer Nachfrage, Angemessenheit der Stellenausstattung, Qualität in Forschung und Lehre sowie Profilierung beurteilen. Die Geisteswissenschaften sind keine Ausnahme. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Philosophische Fakultät, speziell was die Profilierung angeht?

Es gibt seit Ende der 1990er Jahre durch eine damals vorgenommene Aufteilung sogar drei Philosophische Fakultäten an der UdS. Aber reden wir der Einfachheit halber von „der“ Philosophischen Fakultät. Eigentlich kann sich das Saarland eine Universität in der jetzigen Breite und mit dem vorhandenen Fächerspektrum schon seit zehn Jahren nicht mehr wirklich leisten. Auch vor der Amtszeit des jetzigen Präsidenten hat es in meiner Fakultät bereits Einschnitte gegeben. Eine Folge davon ist, dass manches Fach inzwischen ganz fehlt oder nur noch durch eine einzige Professur vertreten ist. Wenn man sich das dann wie der Wissenschaftsrat von außen anschaut, kann man natürlich fragen, ob unter solchen Einschnitten nicht auch die Qualität leidet.
Als ich vor langer Zeit zu entscheiden hatte, wo ich studieren wollte, hätte ich jede Uni außer Betracht gelassen, an der meine Fächer (Philosophie, Mathematik) nur durch eine einzige Professur vertreten waren. Was ich damit sagen will, ist, dass die Attraktivität eines Faches für Studienanfänger klarerweise leidet, wenn dieses Fach mit einer personellen Minimalausstattung dasteht. Irgendwann wird es natürlich Auswirkungen etwa auf die Promotionszahlen haben, wenn fachlich besonders ambitionierte Interessenten ein Fach einer Uni aufgrund einer solchen Minimalausstattung für sich ausschließen. Auch der Forschungsaspekt leidet in der Regel darunter, wenn Fächer zu klein geworden sind. Es ist verständlich, wenn dann von außen draufblickende Gutachter und Gutachterinnen die Frage aufwerfen, ob sich Fächer in diesem Zustand für eine Fortführung empfehlen lassen. Besonders in einer Zeit, in der gespart werden muss. Und dass hart gespart werden muss, ist ja unstrittig.
Insofern bin ich froh, dass man jetzt dazu genötigt ist, Strukturentscheidungen zu treffen. Man konnte bisher im Land immer noch sagen: „Seht her, wir haben hier eine Uni mit einem breiten Fächerspektrum.“ Das ist die Fassade. Schaut man allerdings hinter die Fassade, sieht es oft ziemlich prekär aus. Man kann nun nicht mit dem Sparen so weitermachen, dass man hier und da die einzige noch vorhandene Professur auch noch auf eine halbe oder viertel Professur zurückfährt. Nein, man muss sich überlegen, ob man bestimmte Sachen ganz opfert, um anderswo wieder Handlungsspielräume zu bekommen. Vielleicht auch dafür, Ein-Professuren-Fächer in als wichtig erkannten Bereichen, wichtig zum Beispiel für eine Profilierung der Fakultät im Bereich der europäischen Kultur, wieder aufzustocken und damit konkurrenzfähig zu machen.

Erwarten Sie denn, dass es der Philosophischen Fakultät „an den Kragen geht“?


Der Fakultät als ganzer wohl kaum. Im Gutachten ist häufig von einzugehenden Kooperationen mit Universitäten im Umland die Rede. Ich denke, es ist klar, dass damit nicht gemeint ist: Studierende aus Saarbrücken sollen zukünftig verstärkt auch Lehrveranstaltungen in Geschichte, Philosophie usw. in Trier besuchen, und umgekehrt. Die Idee ist natürlich schon, bestimmte Fächer in Saarbrücken ganz zu schließen, weil man sie auch in Trier oder Kaiserslautern studieren kann. Insofern rechne ich durchaus damit, dass auch Fächer der Philosophischen Fakultäten am Ende eingestellt werden könnten. Ob darunter Fächer sein werden, die ohnehin nur noch durch eine einzige Professur vertreten sind, wird sicher in den eingesetzten Arbeitsgruppen diskutiert werden. Eine gewisse Mindestgröße ist jedenfalls ein wichtiger Faktor für den Output eines Faches. Größe ist aber nicht der einzige Faktor. Mein Fach z. B. hat trotz vergleichsweise guter personeller Ausstattung ein erhebliches Problem mit zu geringen Absolventen- und Promotionszahlen.

Warum ist das so?


Vermutlich ist das zum guten Teil die Folge eines Imageproblems der Philosophie. Vieles spricht dafür, dass das Fach in erheblichem Umfang  Interessenten anzieht, die etwas ganz anderes erwarten und sich dann mit den Anforderungen des Fachs schwer tun. Wir arbeiten längst daran, die Informationslage zu verbessern. Es ist natürlich auch schlecht für die Philosophie, wenn in deren Umfeld Fächer wegbrechen, die an sich sehr gut in Kombination mit Philosophie studiert werden könnten. Wir wünschen uns zum Beispiel, dass Studenten bei entsprechendem Interesse die Möglichkeit haben, sich für eine  Kombination aus Hauptfach Philosophie und Nebenfach Wirtschaftswissenschaften zu entscheiden, oder umgekehrt. Oder für Philosophie und Rechtswissenschaft. Solche Kombinationen sind für das Fach bereichernd und für die Berufsaussichten von Absolventen hilfreich. Es wäre bedauerlich, wenn derartige Möglichkeiten in Zukunft am Standort wegfielen.

Sie haben die Faktoren „Attraktivität“ und „Image“ bereits angesprochen. Hat die Philosophie als Fach ein Attraktivitäts- und Imageproblem?

Wir haben, was die personelle Ausstattung angeht, glücklicherweise nicht das Problem, das einige andere Fächer haben. Im bundesdeutschen Vergleich können wir durchaus zufrieden sein. Wobei allerdings auch erwähnt werden muss, dass unabhängig von den Empfehlungen des Wissenschaftsrats Personalabbau bei der Philosophie im Entwicklungsplan der Universität bereits vorgesehen ist.
Die nächste Frage ist, ob die Philosophie an sich ein Imageproblem hat im Hinblick auf Inhalte und Nutzbarkeit. Natürlich entwerfen wir hier keine nützlichen Maschinen, Werkstoffe und dergleichen. Wir verfolgen andere Ziele. Wir legen großen Wert auf die Entwicklung von Klarheit und Konsequenz im Sprechen, Denken, Abwägen und Argumentieren, durchaus auch unabhängig von speziellen Themen des Fachs. Ziel ist es, über bestimmte Fachkenntnisse hinaus den Studierenden ein mentales Instrumentarium mitzugeben, das nicht nur in der Philosophie selbst, sondern auch in anderen Tätigkeitsbereichen förderlich ist. Sicher, dies ist kein Produkt, das man auf irgendeiner Industriemesse anbieten könnte. Folglich ist die wirtschaftliche Verwertbarkeit in einem engen Verständnis nicht gegeben. Intellektuelle Tugenden wie die eben von mir angesprochenen sind aber in gesamtgesellschaftlicher und damit auch in wirtschaftlicher Hinsicht langfristig von erheblicher Bedeutung. Sie müssen kontinuierlich hochgehalten und entwickelt werden. Das ist eine Rolle, die mit Sicherheit nicht nur der Philosophie zukommt. Es scheint mit aber auch klar zu sein, dass sie nicht von jedem beliebigen anderen Fach so wie von der Philosophie ausgefüllt werden kann.

Philosophie hat in der breiten Öffentlichkeit den Ruf, eine Elfenbeinturmdisziplin zu sein.

Das ist ein verbreitetes Vorurteil, ja. Es gibt noch ein anderes, schlimmeres. Nämlich dass man den Wissenschaftscharakter der Philosophie nicht recht zu sehen vermag. Also gibt es ihn auch nicht? Es ist ja so, dass im Feuilleton der gehobenen Printmedien immer wieder die Namen bestimmter Autoren auftauchen, die als „renommierte Philosophen“ annonciert werden: die Namen von Peter Sloterdijk oder Richard David Precht beispielsweise. Diese bestimmen dann mit ihren Beiträgen das Bild der Philosophie bei Leserinnen und Lesern, die nicht vom Fach sind. Während ganz im Gegensatz dazu die große Mehrzahl der universitären Fachvertreter den Kopf schüttelt und sich sagt: Das sind doch gar keine Philosophen!
Wir verstehen die Philosophie als eine Wissenschaft unter anderen Wissenschaften. Sonst hätte das Fach auch an einer Universität nichts zu suchen. Jene Feuilletonbeiträge haben mit Wissenschaft in der Regel wenig bis nichts zu tun. Auch wenn sie sehr anregend sein können, ich räume das gern ein. Es steckt unter Umständen eine Menge Esprit darin, speziell bei einem Formulierungskünstler wie Sloterdijk. Ich lese das selbst durchaus mit Vergnügen, sage mir hinterher aber meistens auch: „Hat er denn auch eine Ahnung davon, was Wissenschaft eigentlich ist?“ Diese Frage würde ich übrigens genauso im Hinblick auf eine Reputations-Größe wie Heidegger stellen. Mir ist genau aus solchen Gründen bange um das Image der Philosophie. Der fachfremde Feuilleton-Leser muss ja wohl den Eindruck entwickeln, dass genau so auch die Philosophie in den Universitätsinstituten aussieht. Dies wäre ein Bild meines Faches, mit dem ich nur schlecht leben könnte. Leider wird in den Medien viel zu selten aus der wirklichen, der wissenschaftlichen, Philosophie berichtet.
Eine andere verbreitete Ansicht ist, dass man mit Philosophie beruflich nicht viel anfangen und mit ihr sein Geld nicht verdienen könne. Es ist ein Stückchen Wahrheit daran: Man fährt durch ein Philosophiestudium nicht sicher wie auf Gleisen zu einem eindeutig festliegenden Tätigkeitsfeld hin. Aber es gibt, mit etwas Einfallsreichtum und Flexibilität, vielleicht auch mit einem interessanten Nebenfach, ein Spektrum von Feldern, zu denen sich durch Philosophie ein Zugang eröffnet. Ich kenne Absolventen, die in Unternehmensberatungen sehr gut verdienen. Es gibt übrigens auch immer mehr vermögende Menschen, die auf ethisch vertretbare Anlagen Wert legen. Dementsprechend gibt es Banken für „Ethisches Investment“. Bei einer solchen Bank ist eine meiner ehemaligen Studentinnen tätig. Wer sich mit Politischer Philosophie auskennt, findet sich  unter Umständen als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Abgeordneten wieder, der ihn oder sie als Gerechtigkeitsexperten schätzt.

Müssten nicht genau diese von Ihnen gerade benannten Fakten viel stärker in die Öffentlichkeit getragen werden?

Wenn Sie den Wissenschaftscharakter der Philosophie meinen, die nicht-feuilletonistische Philosophie: Es sind typischerweise subtile und für Außenstehende meist nur mit Mühe im Detail nachvollziehbare Argumentationen und Thesen, die von wissenschaftlichen Disziplinen hervorgebracht werden. Das kann auch nicht anders sein, sonst wäre es keine Wissenschaft, sondern irgendein anderes Projekt. Ich weiß nicht, ob Medienvertreter sich in nennenswerter Zahl gern die Mühe zu machen, mit dieser Situation angemessen umzugehen. Die Aufgabe eines guten Wissenschaftsjournalismus wäre es, subtile Sachlagen ohne zu große Verzerrungen für ein breiteres Publikum ansatzweise rezipierbar zu machen. In diesem Bereich müsste meiner Meinung nach viel mehr getan werden. Nicht nur im Hinblick auf die Philosophie, sondern auch mit einer Berichterstattung aus anderen Disziplinen. Auch die Mathematik, beispielsweise, gehört in die Diskurse der Gesellschaft hinein. Was wir brauchen, ist eine Kontinuität in der Berichterstattung über wirklich in die Wissenschaften fallende Themen.

Ich spreche es deswegen an, weil ich denke, dass durch ein stärkeres Bewusstsein von den Realitäten  der Philosophie das Fach als Universitätsfach weniger angreifbar wäre.

Der Wissenschaftsrat ist natürlich mit Leuten besetzt, die fachkompetent sind. Die können die Verhältnisse in einem Fach wie der Philosophie im Großen und Ganzen angemessen beurteilen. Wenn sich allerdings in breiteren Bereichen der Gesellschaft der Eindruck festsetzen sollte, dass die Philosophie so eine Art „Laberfach“ sei, um es ’mal mit einem etwas vulgäreren Wort zu sagen, dann könnte das irgendwann durchaus auf politische Entscheidungen zur Zukunft des Faches durchschlagen. Denkbaren Fehlentscheidungen können auch verantwortungsbewusste Medienleute durch eine  angemessene Berichterstattung aus der Wissenschaft generell und auch aus der Philosophie entgegenwirken.
Ich habe den Begriff „Laberfach“ bewusst gebraucht, weil ich gelegentlich von Studierenden in der Rückschau höre, dass dies das Ansehen der Philosophie bei vielen Schülerinnen und Schülern am Gymnasium sei. Ein solches Vorurteil tut uns natürlich weh. Hat es auch etwas mit dem schulischen Philosophie-Unterricht zu tun? Ich muss das offen lassen und will kein spekulatives Urteil über einen Bereich fällen, den ich nur vom Hörensagen und nicht aus eigener Anschauung kenne. In meiner eigenen Schulzeit gab es das Fach nicht an meiner Schule, und mit schulpraktischen Studienanteilen bin ich heute nicht befasst.

Ich spiele auch auf das Image als das Fach der Besserwisser an, die auf alles und jeden herabschauen. Daher auch das Bild des Elfenbeinturms.

Das ist noch einmal ein anderes Thema. Was ich eben mit dem Stichwort „Laberfach“ und davor mit „Feuilleton-Philosophie“ angesprochen habe, geht ja eher in die gegenteilige Richtung: Zweifel am Anspruchsniveau des Faches. Was Sie nun anführen, ist ein anderer Aspekt. „Sind diese Leute nicht zu wissenschaftlich-elitär, um sich auch mal in die Niederungen des gesellschaftlich Relevanten zu begeben?“ Nun ja, ich persönlich vertrete an der UdS den Bereich der so genannten Theoretischen Philosophie, und die ist von ihren Themen und Fragenstellungen her, wie der Name schon signalisiert, in der Tat sehr theoretisch. Aber das sind die Reine Mathematik und die Theoretische Physik auch. Nun gibt es daneben, jedoch in enger wissenschaftlicher Verflechtung damit stehend, die Bereiche der Angewandten Mathematik, der Experimental- , der Werkstoffphysik usw. Dies ist in der Philosophie nicht viel anders: Dort gibt es die Praktische Philosophie, in der zum Beispiel Gerechtigkeitstheorien behandelt werden. Und innerhalb der Praktischen Philosophie-Ethik gibt es dann sogar noch einmal ein Teilgebiet wie die Angewandte Ethik, mit sehr ausgeprägten Realitätsbezügen: Klimaethik, Fragen der Zulässigkeit von Sterbehilfe usw. Das müsste außerhalb der Fachzirkel vielleicht auch bekannter gemacht werden. Dieses Interview ist ja ein Beitrag dazu.